Gerechtigkeit bei Aristoteles

Einleitung:
Das Thema „Gerechtigkeit“ gehört bei Aristoteles zu dem größeren Themenkreis der ethischen Tugenden, d. h. Gerechtigkeit betrifft nach Aristoteles den Charakter des Menschen. Aristoteles behandelt die Gerechtigkeit hauptsächlich in Buch V der Nikomachischen Ethik. Vereinzelt finden sich jedoch auch Aussagen über die Gerechtigkeit in den anderen Büchern der Nikomachischen Ethik.

Ich wünsche dem Leser eine interessante und hoffentlich verständliche Lektüre!

Felix H.

Hauptteil:
In der Nikomachischen Ethik finden sich zwei Begriffe von Gerechtigkeit, die voneinander unterschieden werden müssen. Der eine Begriff von Gerechtigkeit ist enger gefasst, der andere weiter. Vorgestellt werden soll zunächst der enger gefasste Begriff von Gerechtigkeit.

Gerechtigkeit als Einzeltugend
Die Ethik des Aristoteles ist im Wesentlichen eine Ethik der Mitte, d. h. eine Ethik des mittleren Habitus. Der Mensch solle mutig sein. Denn der Mut sei die Mitte zwischen Tollkühnheit und Feigheit (vgl. III 9). Der Mensch solle mäßig im Umgang mit der taktilen Lust sein. Denn die Mäßigkeit sei die Mitte zwischen Unmäßigkeit und Empfindungslosigkeit (vgl. III 14). Der Mensch solle freigebig sein. Denn die Freigebigkeit sei die Mitte zwischen Verschwendung und Knauserigkeit (vgl. IV 1). Dieser Logik, die Mitte zu favorisieren und die charakterlichen Extreme abzulehnen, folgt Aristoteles auf insgesamt zehn Feldern. Das letzte Feld betrifft das Witze-Machen. Auch hier liege das tugendhafte Verhalten im mittleren Habitus, den Aristoteles Artigkeit oder Gewandtheit nennt. Denn die Artigkeit liege in der Mitte zwischen Possenreißerei und Steifheit (vgl. IV 14).

Die Gerechtigkeit als Einzeltugend verhält sich genauso, wie sich der Mut oder die Mäßigkeit als Einzeltugenden verhalten. Denn auch die Gerechtigkeit als Einzeltugend hat ihr eigenes Feld wie der Mut das Feld „Umgang mit Gefahren“ hat oder die Mäßigkeit das Feld „Umgang mit der taktilen Lust“ hat. Das Feld der Gerechtigkeit sei der Umgang mit Gütern (vgl. V 2; s. auch V 5); vielleicht kann man konkreter sagen: das Einfordern von Gütern für sich. Demnach kann der Mensch Güter in angemessenem Umfang für sich einfordern oder zu viele Güter bekommen oder zu wenige Güter erhalten.

Gerecht im Sinne der Einzeltugend sei nun derjenige, der angemessen viele Güter fordere und bekomme. Derjenige, der zu viele Güter bekomme, tue Unrecht; derjenige, der zu wenige Güter erhalte, leide Unrecht (vgl. V 9).
So liegt auch die Gerechtigkeit als Einzeltugend in der Mitte, nämlich in der Mitte zwischen Unrecht tun und Unrecht leiden.

Auf die gerechte Verteilung von Gütern kommt es nach Aristoteles in dreierlei Hinsicht in der Gesellschaft an. Zum einen bei der „Verteilung von Ehre, Geld oder anderen Gütern“ (V 5) durch den Staat an seine Bürger. Zum anderen vor Gericht. Hier nehme der Richter dem Verletzenden etwas von seinem durch seine Tat erzielten „Gewinn“ (V 7) weg und gebe es dem Verletzten.
Das dritte gesellschaftliche Feld, auf dem es ebenfalls um die gerechte Zuteilung von Gütern gehe, sei der Markt. Denn auf dem Markt gehe es darum, einen Preis für den Tausch von Gütern festzulegen (vgl. V 8). In Buch IX, Kapitel 1 thematisiert Aristoteles die Festsetzung des Preises auf Märkten erneut, und betont, dass letztlich der Käufer den Kaufpreis einer Ware bestimme. Auf all diesen drei Feldern kommt es darauf an, dass der Bürger weder zu viel, noch zu wenig Güter bekommt.

Als Beispiel für ein ungerechtes Verhalten führt Aristoteles denjenigen an, der „des Gewinns wegen Ehebruch begeht und dabei noch Geld bekommt“ (V 4). Vielleicht ist auch das Verhalten von Tyrannen, „wenn sie Städte plündern oder Tempelraub begehen“ (IV 3) und so „große Gewinne machen“ (ebd.), ein Beispiel für ungerechtes Verhalten.

Gerechtigkeit als „vollkommene Gutheit des Charakters […] in Bezug auf den anderen Menschen“
Die Ethik des Aristoteles ist im Wesentlichen eine Ethik der Mitte (s. o.). In der Nikomachischen Ethik werden insgesamt zehn Mitten thematisiert. Zusammen mit der Gerechtigkeit als Einzeltugend sind es elf Mitten.

Manche dieser Mitten richten sich auf die handelnde Person selbst, andere Mitten beziehen sich auf den Mitmenschen. Die Mäßigkeit im Umgang mit der taktilen Lust bezieht sich z. B. auf die handelnde Person selbst, sofern es darum geht, weder zu viel, noch zu wenig zu essen und zu trinken. Die Mäßigkeit im Umgang mit der taktilen Lust kann sich aber auch auf den Mitmenschen beziehen, z. B. wenn es darum geht, nicht Ehebruch zu begehen.

Viele Mitten, die Aristoteles in der Nikomachischen Ethik aufzählt, beziehen sich auf den Mitmenschen. So führe der Mut des Soldaten dazu, nicht zu fliehen und seinen Kameraden nicht allein zu lassen (vgl. III 11). Die Mäßigkeit führe dazu, dass der Ehepartner nicht betrogen werde (vgl. V 3). Die Freigiebigkeit führe dazu, dass die geleistete Arbeit eines anderen angemessen entlohnt werde (vgl. IV 1). Die Großzügigkeit der Reichen führe dazu, dass ein Stadtfest ausgerichtet werden könne (vgl. IV 5). Der Sanftmut führe dazu, dass der Zürnende dem anderen weder zu viel, noch zu wenig zürne (vgl. IV 11). Die Freundschaftlichkeit führe dazu, dass der andere weder zu viel, noch zu wenig kritisiert werde (vgl. IV 12). Die Wahrhaftigkeit führe dazu, dass der Wahrhaftige in seinen Fähigkeiten von anderen weder überschätzt, noch unterschätzt werde (vgl. IV 13). Und die Artigkeit führe dazu, weder zu viele, noch zu wenige Witze vor anderen, und keine beleidigenden Witze über andere, zu machen (vgl. IV 14).

Gerecht im Sinne der vollkommenen Gutheit des Charakters in Bezug auf den anderen Menschen sei nun derjenige, der tugendhaft mit Blick auf den anderen ist. Oder in anderen Worten: Gerecht im Sinne der vollkommenen Gutheit des Charakters in Bezug auf den anderen Menschen sei derjenige, der über alle mittleren Dispositionen verfügt, die sich auf den Mitmenschen beziehen (vgl. V 3). Auch wenn Aristoteles das nicht so konkret sagt: Tugendhaft scheint in diesem Sinne derjenige zu sein, der mutig und mäßig und freigebig und sanftmütig und wahrhaftig und freundschaftlich und im Witze-Machen artig ist. –

Zwei Bemerkungen zur Gerechtigkeit möchte ich noch machen, die sich nicht im V. Buch der Nikomachischen Ethik finden. Zum einen ist für Aristoteles nur der gerecht, der sich über sein gerechtes Verhalten freut. Denn „niemand würde denjenigen gerecht nennen, der sich nicht am gerechten Handeln freut.“ (I 9)
Um ein solch gerechter Mensch zu werden, müsse man sich daran gewöhnt haben, gerecht zu handeln (vgl. II 1 und II 3).

Schluss:
Aristoteles unterscheidet zwei Begriffe von Gerechtigkeit: zum einen die Gerechtigkeit als Einzeltugend und zum anderen die Gerechtigkeit als vollkommene Gutheit des Charakters mit Bezug auf den anderen Menschen.
Die Gerechtigkeit als Einzeltugend bedeute, dass der Mensch angemessen viele Güter für sich fordere. In diesem Sinn sei die Gerechtigkeit die Mitte zwischen Unrecht tun und Unrecht leiden. Unrecht tun bedeute nämlich, zu viele Güter für sich zu fordern, Unrecht leiden meine hingegen, zu wenige Güter zu erhalten.
Die Gerechtigkeit als vollkommene Gutheit des Charakters mit Bezug auf andere bedeute, sich anderen gegenüber stets tugendhaft zu verhalten: im Angesicht der Gefahr, den Posten nicht zu räumen und den Kameraden nicht im Stich zu lassen, im Angesicht der taktilen Lust, nicht Ehebruch zu begehen, im Angesicht knapper finanzieller Mittel dem anderen gegenüber trotzdem freigebig zu sein, im Angesicht eines erlittenen Unrechts dem anderen sanftmütig zu zürnen, etc.

Felix H.

Lektüre:
Aristoteles: Nikomachische Ethik, übersetzt und herausgegeben von Ursula Wolf, Reinbek 52015.

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